Den ersten offiziellen Anstoß für die Errichtung der heutigen JVA gab ein Schreiben des Großherzoglichen Ministeriums des Inneren und der Justiz in Darmstadt vom 16.12.1884. Es richtete sich an die Großherzogliche Provinzialdirektorin Oberhessen mit dem Auftrag, ein Gutachten über die Notwendigkeit der Errichtung einer neuen Zellenstrafanstalt unter Berücksichtigung der im Landeszuchthaus Marienschloß (heute JVA Rockenberg) gemachten Erfahrungen erstellen zu lassen. Im Ergebnis sprachen zwei entscheidende Gründe für den Bau einer neuen Anstalt: Zum einen waren die bestehenden Strafanstalten so stark belegt, dass die vollständige Trennung von weiblichen und männlichen Gefangenen sowie die angemessene Unterbringung jugendlicher Gefangener nicht mehr gewährleistet waren. Die Gefängnisse in Darmstadt und Mainz ließen sich aus Platzmangel, das Landeszuchthaus Marienschloß wegen des schlechten Untergrundes nicht mehr erweitern, zum anderen hatte sich im Großherzogtum Hessen die Erkenntnis durchgesetzt, dass das System der Einzelhaft – in Preußen an 1889 Regelstrafe – dem Strafzweck eher dient als die bis dahin übliche gemeinsame Haft, was durch bauliche Maßnahmen gefördert werden sollte. So ersuchte die Regierung am 21.5.1886 die Landstände um Bewilligung des für die Erbauung einer Zellenstrafanstalt erforderlichen Betrages von 1,5 Millionen Mark. Die 2. Kammer der Landstände genehmigte am 05.05.1887 zunächst einmal lediglich 1,1 Millionen Mark, weil der zuständige Ausschuss der Kammer den Bedarf an Haftplätzen von 501 auf 334 heruntergerechnet und demnach zwei (statt der vorgesehenen drei) Zellenflügel für ausreichend gehalten hatte. Der Ausschuss hebt in seinem Bericht jedoch hervor, dass die vorgelegten Baupläne mit den "Grundsätzen für den Bau und die Errichtung von Zellengefängnissen", im Mai 1894 beschlossen vom Verein der deutschen Strafanstaltsbeamten, übereinstimmen. Nach diesen Grundsätzen ließ sich ein verständiger Strafvollzug nur bei möglichst ausgedehnter Durchführung der Einzelhaft ermöglichen. Um den Standort für die erbauende Zellenstrafanstalt bewarben sich mehrere Gemeinden, während sich die Stadtverordneten von Offenbach per Beschluss gegen eine Anstalt in ihrer Gemarkung aussprachen. Die Stadt Butzbach richtete am 02.05.1888 betreffs Erbauung einer Zellenstrafanstalt ein "unterthänigstes Gesuch des Gr. Bürgermeisters Küchel zu Butzbach" an das Ministerium. Darin "wagt es" der Bürgermeister für eine Delegation des Gemeinderates, um "gnädige Audienz bei sr. Königlichen Hoheit unterthänigst zu bitten". Für Butzbach als Standort sprachen nicht nur die gute Verkehrsverbindung durch die Main-Weser-Bahn, sondern auch die umfangreichen Gegenleistungen, die die Stadt in Aussicht gestellt hatte. In dem schließlich am 29. März 1889 geschlossenen Vertrag zwischen dem großherzoglichen Fiskus und der Gemeinde Butzbach verpflichtete sich die Stadt zu folgenden Leistungen: Kostenlose Stellung des Grundstücks nebst 22.500 Mark Zuschuss zu den Planierungskosten, unentgeltliche Lieferung von 80 Kubikmetern Trinkwasser täglich, kostenlose Anbindung der Anstalt an die städtischen Wasser- und Kanalanschlüsse. Bereits in einem Lageplan vom April 1890 war die Anstalt auf dem bis dahin noch unbebauten nordwestlichen Randgebiet der Stadtgemarkung an der heutigen Kleeberger Straße vorgesehen. Dieser Platz wurde als Exerzierplatz von zwei Schwadronen des 24. Dragoner-Regiments und im übrigen als Festplatz genutzt. Der oben genannte Plan entsprach im wesentlichen der später realisierten Ausführung, die sich wie folgt beschreiben lässt: Drei (ursprünglich) gleich lange Zellenflügel treffen in einem zentral gelegenen Gebäudeteil zusammen, von dem aus sie gleichermaßen einsehbar sind (panoptisches System) und bilden mit dem Verwaltungsbau als vierten Flügel einen rechtwinkligen Kreuzbau. Der Grundriss entsprach damit ziemlich genau dem um 1885 für Preußen entwickelten "Normalplan eines Zellengefängnisses". Dieser war eine Weiterentwicklung der fünfflügeligen Gefängnisanlagen von Moabit (1846 eröffnet) und Pentonville bei London (1842 erbaut), die wiederum auf das damals neuartige Konzept des "Eastern Penitentiary" von Philadelphia (USA) mit sieben strahlenförmig angelegten Zellenflügeln zurückgehen.
JVA Butzbach
Geschichte der Justizvollzugsanstalt Butzbach
Mit den Bauarbeiten wurde im Sommer 1890 begonnen. Bis Juli 1894 waren folgende Gebäude fertiggestellt: Hauptgebäude, Wirtschaftsgebäude, Krankenhaus, Torgebäude und Umwehrungsmauer, Direktorwohnhaus, 2 Beamtenwohnhäuser (mit je 2 Wohnungen) sowie 4 Aufseherwohngebäude (mit je 4 Wohnungen). Das Hauptgebäude bestand aus dem dreigeschossigen Verwaltungsflügel mit großem Kirchenraum im Obergeschoß und den beiden nach Westen gerichteten vier- bis fünfgeschossigen Zellenflügeln. Die Einzelzellen waren 3,90 m lang, 2,24 m breit und 3,20 m hoch. In den beiden je 22 m hohen Türmen des Verwaltungsflügels waren Wasserbehälter eingebaut. Unter dem Erdgeschoss der Zentrale befanden sich die Kessel der Heizungsanlage. Die Anstalt verfügte über eine Warmwasser-Zentralheizung und eine Luftheizung für den Kirchenraum und die Korridore.
Am 26. und 27. März war die Anstalt für die Bevölkerung zur Besichtigung geöffnet. Nach einem Bericht des "Wetterauer Boten" vom 30.03.1894 "wanderten Tausende von ortsfremden durch Butzbach", um diese Gelegenheit wahrzunehmen. Nachdem am 1. Juni 1894 Staatsanwalt Clement zum Direktor ernannt worden war, fand am 2. Juli 1894 die offizielle Übergabe der Anstalt statt. Vom 3. bis 10. Juli wurden der Anstalt 149 Gefängnis- und 148 Zuchthausgefangene aus verschiedenen Anstalten des Großherzogtums zugeführt. Während die Überstellung der Gefangenen aus dem Landeszuchthaus Marienschloß – um größeres Aufsehen zu vermeiden – mittels eines Gefangenentransportwagens erfolgte, kamen die übrigen Gefangenen mit der Bahn am Butzbacher Bahnhof an. Von dort wurden sie, jeweils zwei Gefangene aneinander geschlossen, unter scharfer Bewachung zu Fuß zur Anstalt geführt, was Zeitungsberichten zufolge einen wahren Menschenauflauf verursachte. In den ersten Jahren verfügte die Anstalt über folgendes Personal: 1 Direktor, 2 Hausgeistliche, 1 Arzt und 1 Rechner (beide zunächst auch für Marienschloß tätig), 1 Ökonom, 1 Werkmeister, 1 evangelischer Lehrer, 24 Aufseher und 3 Schreibgehilfen. In seinem ersten Jahresbericht vom 14.08.1895 beschreibt Direktor Clement die gesunde Lage der Anstalt, die Bauausführung und Kanalisation sowie die Lichtzufuhr als mustergültig für alle kultivierten Staaten. Mangelhaft waren dagegen die Schlösser der Zellentüren – sie konnten von außen ganz leicht mit einem Stück Eisen geöffnet werden. Die Zellenausstattung der neuen Anstalt bestand aus einem Bett, einem Tisch mit Schemel, einem Spind, hölzernen Kleiderhaken, dem sog. Leibstuhlgefäß und dem Heizkörper.
Der Werktag begann für die Gefangenen morgens um 4.45 Uhr (im Winter eine Stunde später) mit dem Glockenzeichen der Zentrale. Nach einer halben Stunde, die für Waschen, Ankleiden, Morgengebet und Zellenreinigung zur Verfügung stand, war Arbeitsbeginn. Für das Frühstück um sieben Uhr gab es eine halbe Stunde Pause. Die Arbeit wurde vormittags durch Religions-, Schul- und Gesangsunterrichts sowie den einstündigen Spaziergang unterbrochen. Nach der Ausgabe des Mittagsessens um 12 Uhr und einer halbstündigen Pause wurde die Arbeit bis zum Abendessen 19 Uhr fortgesetzt. Einschluss war um 19.30 Uhr, eine Viertelstunde später hatte sich jeder Gefangene auf ein Zeichen ins Bett zu legen. Zweimal täglich mussten die Leibstuhlgefäße geleert und gereinigt werden. Zum Waschen erhielten die Gefangenen zwei mal pro Tag frisches Wasser und nach Bedarf Seife. Ein warmes Brausebad gab es im Sommer alle 14 Tage und im Winter alle 4 Wochen. Auch das Haar- und Nägelschneiden war geregelt. Besuch durften Gefangene alle 3 Monate erhalten. Briefverkehr war den Zuchthausgefangenen monatlich gestattet. Die Gefangenen trugen ausnahmslos Anstaltskleidung . Bis auf wenige Ausnahmen wurden die Strafen in Einzelhaft verbüßt, das bedeutete Trennung von anderen Gefangenen und Verbot der Kontaktaufnahme. Beim Spaziergang musste ein Abstand von 5 Schritten eingehalten werden. Im Kirchenraum und für den Unterricht gab es hölzerne Kojen, die die Gefangenen voneinander abtrennten. Die Aufseher waren tagsüber mit einem kurzen Seitengewehr, nachts mit Revolvern und Karabinern bewaffnet.
Auch nach der Eröffnung wurde an der Anstalt weitergebaut. Im Bau befindlich waren der dritte Zellenflügel, ein Magazin, eine Schlosserwerkstatt, ein Holz- und Kohleschuppen, ein Petroleumbehälter, zwei Kehrichtgruben, zwei Aufseherwohnhäuser und das dritte Beamtenwohnhaus. Viele Gefangene wurden als Erdarbeiter und Tagelöhner bei den Erweiterungsbauten eingesetzt, weil sie sonst ohne Beschäftigung geblieben wären. Der dritte, nördliche Zellenflügel konnte am 1. 10. 1896 seiner Bestimmung übergeben werden. Er bestand aus 167 – an Fenstern und Türen doppelt gesicherten – Zellen und wurde mit Zuchthausgefangenen belegt, so dass in den übrigen Flügeln nun nur Gefängnisgefangene untergebracht waren. Die Belegungsfähigkeit stieg damit auf 501 Gefangene. Die Fenstergitter der neuen Zellen mussten nachträglich mit einem zweiten Querstab versehen werden, nachdem "alte Berufsverbrecher" den Direktor auf die ungenügende Sicherheit bei nur einem Querstab aufmerksam gemacht hatten. Um die Jahrhundertwende stieg der Bedarf an Haftplätzen erneut stark an. Daher wurde der südwestliche Zellenflügel im Jahre 1907 durch einen drei- bis vierstöckigen Anbau um insgesamt 30 Meter verlängert. Man glaubte hier sparen zu können, weil die Zellen für kurzfristige Gefangene, die tagsüber auf dem Feld arbeiteten, gedacht waren. Schon bald wurde die Enge jedoch als unzumutbar empfunden und später ein großer Teil der Zellen in größere Zellen umgebaut. Ab 1907 wurde die Zuständigkeit dahingehend geändert, dass die Anstalt nur noch für Gefängnisgefangene in Einzelhaft, jedoch auch für Jugendliche, bestimmt war. Die ersten jungen Gefangenen wurden im Sommer 1909 nach Auflösung des Darmstädter Jugendgefängnisses in Butzbach untergebracht. Dazu wurde der Anbau des südwestlichen Flügels Durch eine verglaste Wand abgetrennt. Während des ersten Weltkrieges wurden nicht nur sämtliche Aufseher im wehrpflichtigem Alter, sondern auch alle wehrpflichtigen Gefangenen eingezogen. Dadurch konnte der nordwestliche Zellenflügel mit Zuchthausgefangenen aus Rockenberg belegt und der nordöstliche Flügel dem stellvertretenden Generalkommando als Militärgefängnis überlassen werden. Der Antrag des Gemeinderatsmitgliedes Oppenheimer (KPD) in der Zeit der Arbeiter- und Soldatenräte 1918, das Wahlrecht für die Insassen der Zellenstrafanstalt durchzusetzen, hatte keinen Erfolg. Nachdem sich die Belegungszahlen 1919 wieder drastisch erhöhten, gelang dem neu eingesetzten Direktor Stumpf gegen Ende des Jahres die Herausnahme der Militärgefangenen und die Einrichtung einer Abteilung für 100 Gefängnisgefangene im Landeszuchthaus Marienschloß. Weiterhin richtete man beim Arbeitshaus in Dieburg eine Abteilung für 200 Gefangene ein. Die dort praktizierte Gemeinschaftshaft brachte jedoch Probleme bei der Disziplin mit sich, so dass ab 1921 nur noch besonders vertrauenswürdige Gefangene für Dieburg zugelassen wurden. Trotz der Entlastung durch die beiden Abteilungen stieg die Belegung im Jahre 1921 auf 762 Gefangene an. Im Jahresbericht von 1921 klagt der Anstaltsleiter, dass durch die Überbelegung der "erzieherische Zweck des Strafvollzuges bedeutend zurücktreten" musste. Auch seien viele Zugänge "mit körperlichen Gebrechen und seelischen Defekten behaftet". Im Jahre 1922 ging die Belegung soweit zurück, dass die Abteilung im Landeszuchthaus Marienschloß aufgegeben werden konnte. Mitte der zwanziger Jahre wurde in hessischen Gefängnissen der Stufenstrafvollzug eingeführt. Für die Zellenstrafanstalt Butzbach war dies in der neuen Hausordnung vom 19.10.1925 geregelt. Danach gab es drei Stufen von Haftbedingungen. Die erste Stufe, die für Erwachsene sechs, für Jugendliche drei Monate dauerte, gewährte lediglich einfachste Haftbedingungen ohne Vergünstigungen. In den Stufen II und III waren Vergünstigungen in Bezug auf Verpflegung, Bewegungsmöglichkeiten in der Anstalt, Besuchs- und Briefkontakte sowie Bildungs- und Arbeitsbedingungen vorgesehen. Die Einstufung war anhängig von der Haftdauer und dem vom Gefangenen gezeigten Verhalten. Als Erkennungszeichen trugen die Gefangenen der Stufe II einen weißen, die der Stufe III einen gelben Kragenknopf. In dringenden Fällen konnte der Anstaltsleiter auch Urlaub aus der Haft bis zu einer Woche gewähren. Die am 01.02.1924 in Kraft getretene Dienst- und Vollzugsordnung für die Gefangenenanstalten in Hessen gab den Gefangenen erstmals ausdrücklich das Recht auf Beschwerde gegen Maßnahmen des Vollzuges. Beschwerdeinstanzen waren der Anstaltsleiter, danach der Generalstaatsanwalt und schließlich der Justizminister. In den zwanziger Jahren war die Anstalt für eine Belegung mit 750 Gefangenen vorgesehen; dazu standen insgesamt 612 Einzel- und Dreimannzellen zur Verfügung. Der damalige Anstaltsleiter Stumpf engagierte sich in verschiedener Hinsicht für Verbesserungen im Vollzug. Er organisierte in den Jahren 1926 bis 1928 Fortbildungsveranstaltungen für jüngere Aufseher und regte in Fachkreisen den Einsatz von Fürsorgern an, die sich in besonderem Maße mit der seelischen Behandlung der Gefangenen zu befassen hatte. Mit großem persönlichen Einsatz gelang es Stumpf, musikalische Darbietungen in der Anstalt zu organisieren, denen er als "Mittel der Gemütspflege im Strafvollzug" große Bedeutung beimaß. Für die musikalische Beratung und als ausführende Künstler konnte er Musikdirektor Rosemeyer aus Bad Nauheim und Professor Dr. Schmidt aus Friedberg gewinnen. Allein zwischen1923 und 1928 fanden 17 Veranstaltungen – darunter auch Weihnachtsfeiern – mit musikalisch anspruchsvollem Programm statt. Zu dieser Zeit gab es sogar einen Sängerchor der Gefangenen unter Leitung des Oberreallehrers Felsing und ein Beamten-Blasorchester. Stumpf beendete seine Tätigkeit als Anstaltsleiter im Jahre 1932. Noch im selben Jahr äußerte er sich in einem Fachblatt visionär, dass der Strafvollzug an einer bedeutsamen Wende stehe und die Periode des reinen Erziehungsstrafvollzuges vorüber sei.